Tatort Ehrenstraße. Brandstifter, dann Biedermann. Gerade soll ein sehr, sehr junger Mann einen Sprengsatz vor einem Modegeschäft in der Kölner Innenstadt gezündet haben, nun schlendert er durch dunkle Morgenstunden in Richtung Hauptbahnhof. So was von lässig, so was von entspannt; man meint geradezu, ihn auf dem Weg vom Tatort in den Feierabend fröhlich pfeifen zu hören. Von Köln geht es für ihn mit dem Zug über Venlo und Utrecht nach „Amsterdam Centraal“, also den Hauptbahnhof, und dann – vermutlich – nach Hause. „Total gelassen, als wäre es nichts Besonderes, mal eben einen Laden anzustecken“, sagt ein an den Ermittlungen beteiligter Polizist beim Blick in die Videos. Das angegriffene Geschäft ist nach dem Totalschaden noch heute geschlossen. und muss komplett renoviert werden.
Man darf getrost unterstellen, der mutmaßliche Täter wäre damals nicht ganz so gelassen geblieben, hätte er gewusst, dass er aus dem Geschäft heraus und vor dem Geschäft, auf dem Weg durch die Stadt und in den Bahnhöfen immer wieder von Überwachungskameras gefilmt wird. Die Explosion und der folgende Brand vom Spätsommer 2024 gehören zu einem Tatkomplex, der die Polizei Köln seit neun Monaten beschäftigt. Explosionen in Eingängen, Schüsse auf Häuser, Entführungen, Freiheitsberaubungen und sogar ein Tötungsdelikt. Ein Folterkeller, in dem Blut geflossen ist. Allein für die Sommermonate verzeichnet der Zeitstrahl der Polizei 16 zusammenhängende Taten, die Unruhe ist damals groß in der Kölner Bevölkerung.
Zunächst richtet die Polizei die „Besondere Aufbauorganisation Keupstraße“ ein, benannt nach dem Tatort der ersten Explosion. Und in Unkenntnis dessen, was da noch kommt und was der Leitende Kriminaldirektor der Kriminalpolizei Köln Michael Esser später beschreiben wird als „beispiellose Fälle der Gewalt- und Schwerkriminalität, die es bis dato in Köln so nicht gegeben hat“. Die Fülle der Fälle deutet jedenfalls früh auf offene Rechnungen im Milieu hin, die besser beglichen werden sollten.
Aus der BAO Keupstraße wird die bereits deutlich größere „Ermittlungsgruppe Sattla“ (arabisch für „Haschisch“) und zuletzt die „Ermittlungsgruppe Fusion“. „Die Frage war: Wie stellen wir uns auf? Wir haben die kleine Ermittlungsgruppe ständig vergrößert“, sagt Dirk Schuster (58), Leiter der Kriminalinspektion 2 in Köln und Leiter dieser heutigen „EG Fusion“. Ermittlerinnen und Ermittler unter anderem aus den Bereichen Organisierte Kriminalität, Staatsschutz und Betrug kommen dort zusammen. Heute arbeiten im vierten Stock des Kölner Polizeipräsidiums rund 80 Männer und Frauen an den Fällen. Der Arbeitsdruck in ihren eigentlichen Kommissariaten ist für die verbliebenen Kolleginnen und Kollegen damit natürlich gewachsen, 20 Kräfte aus auswärtigen Polizeibehörden unterstützen sie dort, solange die Fusionierten fehlen.
Sie ermitteln international mithilfe von SIENA und auch EPICC, setzen Öffentlichkeitsfahndung ein und treffen sich täglich zu Dienstbesprechungen. Wer nicht dabei ist, bleibt über „Teamwire“ auf Stand, den besonders gesicherten Messenger-Dienst der Polizei, oder über das polizeiinterne Videokonferenz-System. Die Kolleginnen und Kollegen seien „mit Herz und Engagement dabei. Es ist uns gelungen, auch die zu einem Team zusammenzuführen, die die Arbeit einer Ermittlungsgruppe noch nicht kannten“, sagt Schuster.
Um es einmal ganz kurz zusammenzufassen: Auslöser der kriminellen Auseinandersetzung, die die Ermittler aufarbeiten, sind rund 300 Kilogramm abhandengekommenes Cannabis. Die sind im Juni 2024 aus einer Lieferung von 700 Kilogramm verschwunden, die aus Spanien über die Niederlande in eine Lagerhalle in Kölns Nachbarstadt Hürth verbracht worden war. Mit den meisten der ausgesprochen einschüchternden Taten versuchen die Auftraggeber der Lieferung offenbar herauszufinden, wer sie bestohlen hat und wo ihr Rauschgift ist. Sie wollen es nämlich zurück. Der Zusammenhang erschließt sich aber erst nach und nach.
„Wir wussten zunächst nicht, warum diese Straftaten so öffentlichkeitswirksam begangen wurden“, sagt Dirk Schuster. Organisierte Kriminalität neigt bekanntlich nicht zur Geschwätzigkeit und auch diejenigen Opfer, die selbst aus dem kriminellen Milieu kommen, zeigen sich regelmäßig recht verschlossen. „Wir mussten die Geschichte finden“, sagt Schuster. „Und bevor wir eine Tat aufklären konnten, kamen ständig neue Straftaten binnen Tagen und Wochen hinzu.“
Relativ früh zeigt sich, dass Niederländer an den Taten beteiligt sind. „In der öffentlichen Wahrnehmung geht es um Drogenkriminalität mit Verbindungen zur niederländischen Organisierten Kriminalität sowie um Bandenkriminalität“, sagt Leitender Kriminaldirektor Esser schon auf einer Pressekonferenz im September 2024.
Die mutmaßlichen Drahtzieher sind wohl überwiegend aus Köln und dem Raum Köln, sind im Drogenmilieu beheimatet und polizeibekannt, wenn auch der Grad ihrer durchorganisierten Kooperation nicht klar war. „Das war Inhalt der Ermittlungen, die wir geführt haben.“ Wie sich freilich auch zeigt, kommen die Handlanger tatsächlich oft aus dem Nachbarland, zwei Handvoll etwa sind inzwischen bekannt. Und die Modekette, die in der Kölner Innenstadt attackiert worden war, hatte einen ähnlichen Angriff bereits im Ausland erlebt – in Amsterdam.
Die naheliegende Zusammenarbeit mit den niederländischen Behörden hat sich insofern als äußerst fruchtbar erwiesen. Neben der Kooperation mit dem Landeskriminalamt und dem Bundeskriminalamt „sind wir für den Informationsaustausch und hinsichtlich bevorstehender Aktionen früh in die Zusammenarbeit mit festen Ansprechpersonen in den Niederlanden eingestiegen“, sagt Dirk Schuster. „Früher dauerte das Tage und Wochen, heute geht es per Mail sofort.“ Es habe viele persönliche Treffen und Videogespräche gegeben. Der bisherige Höhepunkt und das „Resultat intensiver Arbeit“ sei am 21. Januar dieses Jahres eine gemeinsame Aktion der Ermittlungsgruppe mit Spezialkräften sowie Ermittlerinnen und Ermittlern der niederländischen Polizei aus dem Bereich OK gewesen: Da durchsuchten sie acht Wohnungen, vollstreckten in Amsterdam Haftbefehle gegen drei Männer von 18, 19 und 22 Jahren und sicherten weitere Beweismittel.
Auch haben sie die Hilfe des Fernsehens bemüht: In mehreren Beiträgen in „Opsporing Verzocht“ („Untersuchung beantragt“, dem niederländischen „Aktenzeichen XY ungelöst“) erklären Ermittler aus Köln ihren Fall, zeigen Videoaufnahmen von fortfahrenden Tätern auf den Kölner Ringen oder auch jenen jungen, eingangs erwähnten Mann, der nach getaner Arbeit – der Explosion vor dem Kölner Modeladen – so nonchalant den Heimweg antrat. Ein anderer 16-Jähriger hat sich Ende Februar gestellt, nachdem er mitbekommen hatte, dass die Polizei ihn mit Fotos sucht. „In Kenntnis der bevorstehenden Maßnahmen ist er mit seiner Anwältin hier am Präsidium vorgefahren“, sagt ein Ermittler. „Offenbar wurde ihm der Fahndungsdruck zu groß.“ Das Amtsgericht Köln erließ Haftbefehl gegen ihn, weil er eine Explosion im Eingangsbereich einer Diskothek ausgelöst haben soll, wegen Sachbeschädigung und wegen gefährlicher Körperverletzung: Eine Reinigungskraft war als Zufallsopfer am Trommelfell verletzt worden.
Diese Jugendlichen und jungen Männer sind oft niederländische Staatsbürger mit Migrationsgeschichte. Sie sind auf der untersten Ebene in diesen Drogenkrieg verwickelt und stehen dabei für ein für Deutschland neues Phänomen. So neu, dass es noch nicht eingedeutscht ist: „Violence as a Service“ heißt es zunächst, also sinngemäß „Gewalt auf Bestellung“. Dabei werden junge, oft perspektivlose Kerle über die sozialen Medien für eine Straftat angeworben. Oder sie bewerben sich selbst darum auf Online-Plattformen. Ein Vermittler meldet sich bei ihnen, Auftraggeber und Ausführender kennen einander nicht, Letzterer weiß auch nicht, worum es überhaupt geht. „Zum Beweis muss er ein Video von seiner Tat drehen“, sagt Schuster.
Die Vergütung für die freiberuflichen Sprengmeister, Brandstifter und Sachbeschädiger liege im dreistelligen oder niedrig vierstelligen Bereich, es könne auch Güter geben („eine Playstation“) oder Hierarchiepunkte – die Aussicht, im Erfolgsfall weitere Aufträge zu bekommen und aufzusteigen. Ein Forscher der Uni Maastricht hat diese jungen Männer im ZDF einmal beschrieben als „nicht besonders gut oder intelligent, (sie) stammen meist aus prekären Verhältnissen, sind aber wild entschlossen“.
Der Mann muss es wissen, denn in den Niederlanden ist Gewalt auf Bestellung schon seit Jahren bekannt. Banden bekämpfen sich öffentlich, in einem einzigen Jahr gibt es bis zu 1.000 Sprengungen. In Schweden ist es ähnlich, weshalb Expertinnen und Experten davor warnen, dass „holländische oder schwedische Verhältnisse“ auch nach Deutschland kommen könnten. Derzeit ist es nicht so, doch Schuster weiß, dass Polizeibehörden in zumindest vier Bundesländern es schon mit „Violence as a Service“ zu tun bekommen haben. „Wie ist die Prognose? Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass wir uns darauf einstellen müssen.“ Entsprechende Straftaten seien – zum Teil auch ohne Verbindungen zum Kölner Komplex – auch schon in Dortmund, Düsseldorf und Duisburg registriert worden.
In der Bilanz der „Ermittlungsgruppe Fusion“ stehen nun bis Ende Februar 2025 Untersuchungen an 27 Tatorten, Durchsuchungen von 47 Wohnungen, zwölf Fahrzeugen und vier Geschäften, 64 Ermittlungsverfahren, in 33 Fällen begleitet durch Finanzermittlungen, zwölf zu Sprengungen und drei zu Entführungen sowie weitere zu Waffen- und Drogendelikten. Es gibt so weit 49 Beschuldigte und 25 Festnahmen und die Kölner Staatsanwaltschaft hat erste Anklagen erhoben. Dazu werden in Köln und beim Landeskriminalamt in Düsseldorf fast 1.300 Asservate untersucht, davon allein fast 120 Smartphones „mit unfassbaren Datenmengen“, wie es heißt. „Für die Auswertung ist das ein Pfund.“ Sie beschäftigt einen zentralen Server schon allein ganz gut. Doch hätten sich auch „Old-School-Methoden bewährt“ (Schuster) wie die Auswertung von Fingerspuren oder von Videoüberwachung. Wegen der Verschwiegenheit vieler Beteiligter seien „objektive Spuren und Hinweise“ wichtig.
Die verschwundenen 300 Kilogramm Cannabis sind bis heute nicht aufgetaucht. Vermutlich haben sie sich längst buchstäblich in Luft aufgelöst: Denn die Millionenstadt Köln verbraucht 300 Kilo in wenigen Tagen. Und auch, wenn die Einträge auf dem Zeitstrahl des Tatkomplexes inzwischen weniger werden, machen die Ermittlerinnen und Ermittler weiter. „Die ‚Ermittlungsgruppe Fusion‘ bewegt sich jetzt relativ stabil“, sagt Dirk Schuster. Und klopft dreimal auf Holz – auf den Tisch, der vor ihm steht.